Physis und Psyche
Bereits Anfang 2016 unterhielten wir uns darüber, wie wichtig gerade bei Körperbehinderung das ausgewogene Zusammenspiel von Physis (unser Körper), und Psyche (unser Innenleben, also Denken und Gefühlsleben), ist.
„Wir“ das sind Hannelore Penzkofer von der Münchner Regionalgruppe des BV Poliomyelitis e.V. und ich, Angelika Behrenhoff von der Nürnberger Polio-Selbsthilfe. Wir beide arbeiten bereits seit zehn Jahren in Sache Selbsthilfe sehr eng zusammen, aber darüber hinaus ist auch eine enge Freundschaft entstanden.
Fast unser ganzes Leben nach der überstandenen akuten Kinderlähmung habe wir Polios versucht, eine gewisse Normalität zu erreichen. Aber was ist Normalität im Leben? In der Regel ist es die Normalität der Unbehinderten und die zu erreichen, stresst den Körperbehinderten. Klinische Beobachtungen sagen, dass physischer und psychischer Stress möglicherweise die Auslöser für die PPS-Symptome sind.
Schnell war der Gedanke geboren, zum Thema Psychologie und Körperbehinderung eine Polio-Infoveranstaltung zu organisieren.
Hanni meinte, der ideale Referent zu diesem Thema sei der Wiener Arzt Dr. Georg Fraberger, der 1973 ohne Arme und ohne Beine geboren wurde. Er ist klinischer Psychologe/Gesundheits-Psychologe in Wien. Hanni hatte seine Bücher gelesen und war von der Kompetenz des Arztes mehr als überzeugt.
Ein Lebenslauf
Dr. Fraberger absolvierte 2000 das Psychologie-Studium in Wien und lebte anschließend ein Jahr lang in Somerset (England), wo er als psychologischer Assistent arbeitete.
Ab 2001 schrieb Fraberger an seiner Dissertation und befasste sich mit dem Konzept Lebensqualität. Nach seiner Promotion in Psychologie im Jahr 2007 arbeitet er in seiner eigenen Praxis und ist zudem Sachverständiger beim bVa Pensionsservice im Allgemeinen Krankenhaus der Stadt Wien, in dem übrigens alles rollstuhlgerecht ist. Darüber hinaus ist Dr. Georg Fraberger noch als Referent in der Facharztausbildung, als Seminarleiter an der MedUniWien und seit 2013 auch als Autor tätig.
Gruppenunternehmung und Körperbehinderung
Hat so ein viel beschäftigter und dazu noch körperbehinderter Mann Zeit für ein paar Poliobetroffene? Fragen kostet nichts, sagte Hannelore Penzkofer und schickte eine Anfrage nach Wien. Nach einer positiven Antwort Dr. Frabergers ging es also an die Organisation einer Gruppenunternehmung (mit Seminar) nach Wien. Die Augsburger Regionalgruppe um Renate Krammer schloss sich mit 13 Personen den 21 Münchner Teilnehmern an.
Am 1. September 2017 fuhr dann diese Gruppe ab München im behindertengerechten Reisebus nach Wien. Von uns Nürnbergern fuhren lediglich die Gesprächsleiter der beiden Gruppen, also Petra Bieber von der RG 79 und ich, Angelika Behrenhoff, meine Stellvertreterin sowie mein Mann als Helfer und Begleitperson. Wir vier Personen fuhren direkt von Nürnberg nach Wien mit dem ICE, mit Ein- und Ausstiegshilfe durch die Bahn und ohne umsteigen zu müssen. Die Organisation einer solch weiten, umfassenden Reise mit lauter körperbehinderten Menschen habe ich mir als Gesprächsleiterin der Nürnberger PolioGruppe Franken nicht zugetraut. Jeder Mensch hat schon im normalen Alltag so seine Befindlichkeiten und diese alle auf einer Tour über mehrere Tage unter einen Hut zu bringen . . . alle Achtung!
Das Seminar „Frei leben im unfreien Zustand“
Das Seminar startete mit einer Vorstellungsrunde. Jeder Teilnehmer konnte dabei auch die Fragen in den Raum stellen, die ihn persönlich beschäftigen und auf die wir im Laufe des Tages eingehen wollten. So warf Dr. Fraberger, nachdem er sich vorgestellt hatte, folgende Fragen auf: Was ist man wert als Behinderter? Wann muss ich ja sagen, wann darf ich nein sagen? Wie kann man, auch wenn es noch so kompliziert ist, überall mitmachen?
Aus dem Publikum kamen u.a. folgende Fragen und Bemerkungen:
Was, wenn ich schüchtern bin: „Ich gehöre ja nicht dazu?“ Im Rollstuhl bist du raus aus der Kommunikationsebene! Problem, Hilfsmittel anzunehmen. Woher kommt der Stress und wie werde ich ihn wieder los? Die Behinderung stresst! Ängste, wie „schlimm“ wird es, wenn man älter wird.
Nach der Verschlechterung durch das PPS denken viele Poliobetroffene: „Bin ich faul?“
Dr. Fraberger schlägt vor, zu sagen, man sei „Anstrengungsvermeider“.
Wir sind nicht faul – wir sind Genießer!
Weitere Sätze von Teilnehmern waren: Ich habe ein Problem mit Mitleid, kann ganz schlecht damit umgehen. Ich habe ein Problem zu akzeptieren, dass ich immer kraftloser werde. Es kam auch der Satz: Ich bin im Beruf als Simulantin hingestellt worden.
Viele Poliobetroffene werden jetzt zustimmend nicken. In der einen oder anderen Form hat sich wohl jeder körperlich eingeschränkte Mensch schon einmal mit dergleichen Fragen beschäftigt oder sich irgendwelche verletzende „Frechheiten“ anhören müssen.
Dr. Fraberger: Wie kann ich fühlen, was ich denke? Wir glauben, dass wir die Gedanken steuern können, die Gefühle nicht. Gedanken sitzen im Kopf, Gefühle im Körper (die Seele). Wir sollten uns durch Gefühle nicht klein machen. Das „Kleinmachen“ hängt mit den Werten zusammen – was ist wichtig, was nicht? Beispielsweise bei Beziehungen, die man eingeht: Bin ich gut genug?
Der Mensch besteht aus Körper und Verstand, so die gängige Lehrmeinung und das glaubt man leider auch. Aber wo könnte die Persönlichkeit des Menschen sitzen? Es muss eine Seele im Menschen geben und die hängt mit der Persönlichkeit zusammen.
Wir haben auch über das 3-Instanzen-Modell „Ich, Es und Über-Ich“ von Sigmund Freud gesprochen, aber das hier wiederzugeben, würde zu weit führen. Auf jeden Fall hat sich Sigmund Freud in der Psychologie unter all seinen Kollegen ja durchgesetzt.
Aber machen wir weiter mit dem großen Bereich der Akzeptanz in unserem Leben. Fraberger erklärt, Motivation ist die Energie, sich zu zeigen, ein Rollator oder Rollstuhl kann demotivierend sein. Man muss mit seiner Identität zufrieden sein. Beispiel Rollator, damit finden wir uns klein – er wird als Abwertung empfunden. Menschen werten sich ab, um mit Makeln, Verlust und Schmerz besser klar zu kommen. Wenn man jemanden abwertet, nimmt es die Spannung. Man muss Spannung und Schmerz aushalten können, auch wenn es nichts mit der eigenen Identität zu tun hat.
Fraberger: „Man wird als Behinderter im Rollstuhl im Prinzip angeschaut wie ein Model – die kennt man ja auch nicht!“
Das Gefühl ist der einzige Entscheidungsträger. Man muss sein Gefühl auf eine Stufe bringen, dass man sagen kann, das stört mich nicht mehr, z.B., den Rollator zu nutzen.
Ist Polio eine Identität, die ich mag, oder kann ich noch woanders eine her bekommen? Wenn das Thema Behinderung für einen ein Problem darstellt, kann man nicht frei sein, frei agieren. So ist z.B. Schämen eine Interpretation der Spannung – auch Fremdschämen. Spannung kann man übrigens sehr gut mit Humor nehmen, aber nicht mit Ironie.
Die einzige Möglichkeit, ein Gefühl loszuwerden ist, das Gefühl da sein zu lassen – keinen Widerstand bereiten!
René Descartes sagte: „Ich denke, also bin ich.“ Dr. Fraberger ist der Meinung, es müsste heißen:
„Ich fühle, also bin ich.“
Man soll nicht die negativen Emotionen die Entscheidungen bestimmen lassen, z.B. bei der Nutzung von Hilfsmitteln.
Zwischendurch stellte Dr. Fraberger zur Verdeutlichung immer wieder in kleinen Rollenspielen mit den Fragestellern aus unserer Runde dar, wie wir uns in bestimmten Situationen verhalten und wie wir für unser Wohlbefinden eigentlich besser agieren könnten.
Dr. Fraberger sagt: Wir suchen uns aus, worauf wir uns einlassen. Wenn man gestresst ist, ist man selbst dafür verantwortlich, nicht der andere. Kommunikation ist eine unsichtbare Verbindung von Menschen. Sobald man etwas sagt, geht man eine Beziehung ein. Eine menschliche Beziehung ist immer reparierbar! Auch wir dürfen mal unhöflich sein und auf etwas nicht höflich und diplomatisch antworten. Man muss mit dem Gefühl antworten, dass man gerade hat – in Gefühlen denken!
Dr. Fraberger erklärt, Angst ist, wenn man um sein Leben kämpft, bei allen anderen Situationen macht man sich lediglich klein! Der Behinderte sucht in der Regel die Schuld erst bei sich und verlernt, auch an die anderen zu denken.
Wir müssen lernen, mit unseren Gefühlen besser umzugehen, z.B. beim Thema Mitleid. Einfach fragen: „Warum das Mitleid, schaue ich so schlimm aus?
Eine Spannung, die noch nicht gelöst ist, nimmt man mit nach Hause. Dr. Fraberger sagt: Erlaube dir auch mal, dem anderen weh zu tun, aber schade ihm nicht. Beispiel, wenn jemand was macht, was du nicht gut findest, dann tut es dir weh. Um das Gefühl loszuwerden, muss man erstmal schauen, woher kommt es? Da sind wir wieder bei Freud – das Über-Ich sitzt unbewusst im Körper und hat einen Einfluss auf alles!
Tipps im Umgang mit Frust
Wir lernten, dass wir nie den Frust des Anderen übernehmen sollen – das macht man, wenn man sich rechtfertigt. Die Verbindung zu Menschen, die einen nicht mögen, kann man ruhig kappen; denn auch wenn man gegen Schlangenbisse immun ist, muss man sich nicht täglich beißen lassen.
Frechheiten von anderen uns gegenüber nicht zulassen, sondern lieber fragen: „Geht’s dir nicht gut zur Zeit, du bist so frech?“ Aber nicht böse oder ironisch antworten, dann kommt das Negative zurück.
Genießen muss übrigens jeder lernen, unabhängig von Behinderung. Mit diesem Satz wurden wir in die Mittagspause entlassen.
Unsere Ausstrahlung
Nach der Mittagspause ging es mit dem Thema Kommunikation weiter und da in erster Linie mit der nonverbalen Kommunikation:
Wie lernen wir drauf zu achten, was wir ausstrahlen? Wie können wir ausstrahlen, dass wir kein Opfer sind? Komme ich so rüber, wie ich will? Je freier ich werde, um so weniger werde ich gemobbt. Wie wirke ich? Man sieht den Unterschied zwischen Denken und Fühlen – wenn ich anders denke, als ich fühle, wirke ich nicht authentisch!
Freiwillige aus unserer Runde stellten sich vor uns hin und ließen uns unsere Eindrücke und Einschätzungen ihrer Person schildern. Das war sehr interessant und wir lernten, dass der erste Eindruck oftmals nicht dem entspricht, was der „Proband“ wirklich ausstrahlen möchte. Andererseits hat allein dieser eine Psychologie-Seminartag in uns bereits eine Veränderung bewirkt und für mehr Selbstsicherheit gesorgt.
Erkenntnisse
Damit ging ein informativer und unterhaltsamer Tag zu Ende. In der Hoffnung, unseren Abstecher in die Psyche des Menschen in komprimierter Form an die Poliobetroffenen, die nicht mit uns nach Wien reisen konnten, weiterzugeben, ist dieser Bericht doch etwas umfassender geworden. Aber wie Dr. Fraberger während des Seminars sagte: Bildung ist Wissenschaft – Wissen, Kunst, Leiden ist Wissenschaft – Wissenschaften sind Erkenntnisprozesse. In diesem Sinne hoffen wir, dass beim Lesen so einige Erkenntnisse gewonnen werden konnten. Wir schließen uns jedenfalls Dr. Fraberger an: Auch wer körperlich behindert ist, kann in der harmonischen Verbindung zwischen Körper, Verstand und Herz ein ausgeglichenes Leben führen.
Angelika Behrenhoff
Dieser Beitrag finde ich sehr gut.
Er beschreibt das was ich schon immer in einer ähnliche Form denke und lebe.
Schade dass wir in der Poliogruppe Franken auf solche Themen wenig eingehen.
Entweder ich hatte die Benachritigung über der Begegnung in Wien übersehen oder es gab keine Meldung darüber. Ich wäre gerne selbst hingefahren.
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Ja, das verstehe ich gut, dass Sie auch gerne mit zu Dr. Fraberger nach Wien gefahren wären. In diesem Fall war das allerdings für uns Nürnberger lediglich ein Sprecherseminar, keine Gruppenunternehmung. Beim Treffen am letzten Samstag (9. Sept. 2017) habe ich übrigens ausführlich von den Inhalten des Seminars berichtet und weil uns das Thema Physis und Psyche wirklich alle angeht, habe ich den oben stehenden, ausführlichen Artikel geschrieben. Es freut mich, dass er Ihnen gefällt.
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Liebe Angelika,
als Teilnehmerin bei der Fachtagung in Wien möchte ich Dir meine Hochachtung für diesen Bericht aussprechen. Er gibt genau das wieder, was uns Dr. Fraberger vermittelte. In diesen 8 Std. (Dauer des Seminars) habe ich zwar bemerkt dass Du Dir scheinbar mühelos Notizen machtest, aber, dass es so genau wieder gegeben wird, hat mich dennoch überrascht, noch dazu Du ja sogar aktiv bei einer Demonstration mitgemacht hattest.
Die Fachtagung sowie Dein Bericht dazu haben bei mir eine zeitüberdauernde Nachhaltigkeit hinterlassen. Gerne gebe ich Deinen Bericht auch in der Regionalgruppe München des Bundesverbandes Polio e.V., für die, die nicht mitfahren konnten oder wollten, weiter.
Hannelore Penzkofer
Regionalgruppensprecherin München
des BV Polio e.V.
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Liebe Hanni,
vielen Dank für das tolle Lob, das freut mich sehr,
Angelika
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